Naturgewalten
Was ist der "Schaktarp"?
© Christian Grusdt
„Es ist ein gar merkwürdiger Strich Landes, der sich, entlang dem Kurischen Haff, zwischen den Ausflüssen des mächtigen Memelstromes – bekanntlich in dem benachbarten Rußland »Niemen« geheißen – dahinzieht.“
Mit diesen Worten beginnt die beeindruckende Erzählung „Der Schaktarp“ des am 11.3.1831 in Insterburg geborenen Ernst Wichert (+ 21.1.1902 in Berlin). Der als „Dichter und Richter“ bekannte Schriftsteller und Jurist hatte selbst mehrere Jahre im litauischen Marktflecken Prökuls gelebt und gearbeitet, und er beschrieb das Naturereignis des Schaktarp so eindringlich wie niemand zuvor.
Was aber genau ist dieser „Schaktarp“, (ein aus dem prussischen stammender Begriff) dem ich selbst zum ersten Mal in einer Märznacht im Jahr 1992 im damals stockfinsteren und Nebel verhangenen Tilsit/Sowjetsk begegnet bin: Damals war ich mit einem russischen Freund nach einem späten Abendessen in der Nähe der Königin-Luise-Brücke an den Memelfluss spaziert, um nach fettem Essen und reichlichem Wodka-Genuss noch ein wenig „die Beine zu vertreten“. Da hörten wir es schon aus mehreren hundert Meter Entfernung: Ein beständiges Grollen und zunächst verhaltenes Krachen, das umso lauter wurde, je näher wir ans Memelufer kamen, und das schließlich zu einem gewaltigen Lärm anschwoll, als wir nahe am Wasser waren. Ein Bersten und Reißen aufeinander krachender Eisschollen aller Größen, die sich im schnell dahingleitenden Schmelzwasser der Memel begegneten, sich von gewaltigem Krachen und Prasseln begleitet übereinander schoben, wieder auseinander gerissen wurden und nach und nach in Ufernähe als langgestreckter Saum über mannshoch aufgetürmten Eisplatten aller Größen sammelten. In dieser Nacht sahen mein Freund und ich nur wenig von dem, was sich da auf der Memel tat, nur Schemen von dem gewaltigen Naturschauspiel waren in der Dunkelheit am nebelverhangenen Ufer zu erahnen. Doch als wir am nächsten Morgen wiederkamen, der Schaktarp wütete in gleicher Intensität, da sahen wir das Ausmaß des gewaltigen Eisgangs. Seither weiß ich, warum die Menschen im Memelland seit jeher vom Schaktarp als der fünften und schlimmsten Jahreszeit sprechen.
Auf der besuchenswerten Website www.kurischenehrung.de wird dieses Naturereignis so geschildert: „Im Jahre 2010 hatte der Schaktarp das Memeldelta besonders lange im Griff. Eine Eisdecke von 70 cm Dicke auf dem Haff musste antauen und zersplittern. Dann hinderte ein beständiger Westwind bis tief in den April hinein die aufgetürmten Eisschollen am Abfließen. Als der Wind endlich auf Ost drehte, trieb das Eis nicht schnell nach Norden sondern über das Haff nach Nidden und bedeckte dort die Uferpromenade und staute sich südlich davon am Bulwikschen Haken auf.“
Wer immer die Gelegenheit dazu hat, der sollte es sich nicht entgehen lassen, dieses Ereignis mit eigenen Augen und Ohren nachzuspüren. Erst dann versteht man, warum die Menschen in diesem Land seit jeher voller Ehrfurcht vom Schaktarp als einer alles ergreifenden Naturgewalt sprechen.
Das Foto zu diesem Beitrag zeigt den Eisgang des Schaktarp an der Memel in Tilsit in einer Aufnahme aus dem vergangenen Winter. Es stammt von Eduard Politiko.
Ihm und den Betreibern der mit eindrucksvollen Bildern aus dem Kaliningrader Gebiet gefüllten Website www.nordostpreußen-und-baltikum-reisen.com/bildergalerie/virtueller-winterspaziergang-januar-2021/ danken wir herzlich für die Genehmigung zur Wiedergabe. Das eingangs erwähnte Werk von Ernst Wichert „Der Schaktarp“ steht unter www.projekt-gutenberg.org/wichert/schakt/schakt.html kostenlos zur Lektüre bereit.