Wer das Land unserer Vorfahren näher kennenlernen und Wissenswertes erfahren möchte, der wird früher oder später nicht umhin kommen, Erklärungen für immer wieder auftauchende Begrifflichkeiten zu suchen.

An dieser Stelle wollen wir Euch interessante Fakten und Erläuterungen an die Hand geben. Diese betreffen unterschiedliche Fragestellungen, die fast jedem Ahnenforscher schon einmal im Laufe der Zeit begegnet sind.

Frage:

Ich habe versucht, mich über die verschiedenen Arten der Bauernstände in Ostpreußen zu informieren aus der Zeit zwischen 1750 bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Habe bspw. in dem Buch "Was waren unsere Vorfahren" von Staszewski und Stein als auch im Internet einiges dazu gefunden. Genwiki bietet ja auch Beschreibungen zu manchen Bezeichnungen wie Eigenkätner und dergleichen. In Kirchenbucheinträgen sind mir aber auch adl. Dienstbauern, adl. Freibauern oder königliche Freibauern begegnet.

Kann mir hier jemand Auskunft geben, was genau die Unterschiede zwischen adlig und königlich waren und gerne auch Hinweise auf Seiten oder Bücher, wo ich mich noch weiter zu den Bauernständen und seinen verschiedenen Ausprägungen zu dieser Zeit informieren kann?


Die Frage beantwortet unser Vereinsmitglied Viktor Haupt folgendermaßen :

Grundsätzlich muss man bei dem Thema die Zeit vor und nach der Preußischen Landreform von 1807 unterscheiden. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass es nach 1807 teilweise mehrere Jahrzehnte dauerte, die Reform, die zu Unrecht oft euphemistisch "Bauernbefreiung" genannt wurde, in die Praxis umzusetzen.

Seit frühester Zeit gab es in Preußen (hier ist immer das Gebiet des alten Herzogtums gemeint) eine sehr spezielle Entwicklung, die durch den Ordensstaat geprägt wurde und das Ziel hatte, für Kolonisten attraktiv zu sein. Das Ergebnis war der Stand der Cöllmer (oder Kölmer), das waren privilegierte Freibauern, die nur eine geringe Steuerlast zu tragen hatten, dafür aber, je nach Besitzgröße, in unterschiedlicher Weise zur Landesverteidigung beizutragen hatten. In den alten Verschreibungsurkunden gibt es dazu genau definierte Verpflichtungen. Außerdem hatten sie das Recht, ähnlich wie die Adelsstände, auf den Landtagen mitzustimmen. Die Bezeichnung 'Cöllmer' geht auf die Stadt Culm zurück, in der der Orden 1233 die Beschlüsse fasste, die auch den Besitzstatus der Cöllmer definierte (https://de.wikipedia.org/wiki/Kulmer_Handfeste)

Der Stand der Cöllmer verlor an Bedeutung und Einfluss im Zuge der Weiterentwicklung des Militärwesens. Gut ausgebildete Söldnerheere oder die dann gegründeten stehende Heere machte die alte Verpflichtung der Cöllmer zur Landesverteidigung und die damit verbundenen Privilegien unnötig. Die Landesherrschaften unternahmen verschiedene Versuche, die alten Privilegien der Cöllmer abzubauen und sie auf den Stand der hörigen Bauern herabzudrücken, was die Cöllmer erbittert und durch viele Prozesse und Proteste ganz erfolgreich abzuwehren wussten. Sie verloren jedoch endgültig Mitspracherechte im Landtag. Aber auch der Adel verlor im Zuge des aufkommenden Absolutismus unter dem 'Großen Kurfürsten' Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620-1688) einiges an Einfluss. Die Cöllmer behielten freie Besitzrechte an ihren ererbten Ländereien, frei vererbbar (in der Regel für beide Geschlechter gültig) und die Steuerbelastung blieb weiterhin eher unbedeutend. Cöllmische Güter unterschieden sich von adeligen Gütern nur darin, dass sie in der Regel keine niedere Gerichtsbarkeit besaßen. Brennerei- und Braurechte, die sonst nur Adelsgüter hatten, konnten teilweise auch mit cöllmischen Gütern (Kruggüter) verbunden sein. Nach der "Bauernbefreiung" verblassten allmählich die deutlichen Standesunterschiede zwischen Bauern und Cöllmern und Ehen zwischen Bauern- und Cöllmerfamilien wurden denkbar. Aber noch mein Großvater hat es kaum akzeptieren können, dass man ihn in der Nazi-Zeit als Bauern bezeichnete. In gewissen Kreisen wusste man selbst nach über 100 Jahren noch immer genau, wer welchen Familienhintergrund hatte.

Dann gab es die hörigen Bauern, die bis zur sogn. "Bauernbefreiung" erbuntertänig gegenüber dem Grundherrn waren. Hier wurde unterschieden zwischen adeliger und landesherrschaftlicher Grundherrschaft. Es gab daher adelige Bauern und herzogliche/kurfürstliche/königliche Bauern, je nach Verfassung der Landesherrschaft. Die Landesherrschaft wurde durch Amtmänner ausgeübt, die die erbuntertänigen Bauern zur Arbeit auf den landesherrschaftlichen Domänen heranzog. Die Pflichten waren genauestens geregelt. Amtmänner, die die Bauern zum eigenen Vorteil über die bestehenden Verpflichtungen hinaus heranzogen, wurden streng bestraft. So ging es den Bauern unter Landesherrschaft in der Regel recht gut. Bauern von privatadeligen Gutsherrschaften hingen vom mehr oder weniger guten Willen ihrer Herrschaft ab, was im Extremfall fast bis zum Verhungern führen konnte, weil sie so viel für die Herrschaft arbeiten mussten, dass sie die für ihre Eigenversorgung überlassenen Felder nicht angemessen bestellen konnten (Folge: Bauern flüchteten in die Städte und der Adel schickte Häscher aus oder prozessierte gegen Städte, die die Bauern als Arbeiter aufnahmen). Nach der Preußischen Landreform von 1807 (die nur durch die Bedrohung der staatlichen Existenz durch Napoléon vom König unterzeichnet und vom Adel akzeptiert wurde) sollten alle erbuntertänigen Bauern auf den ihnen überlassenen Flächen selbständig wirtschaften können. Ziel war, dass sie dadurch eigenverantwortliche steuerzahlende Untertanen wurden, um den durch Napoleon hoch verschuldeten Staat Preußen wieder auf die Beine zu bringen. Als privatadelige Scharwerksbauern hatte der Staat keinen Anteil/Vorteil von ihnen gehabt. Das war der eigentliche Sinn der Reform.

Bereits 1777 hatte König Friedrich II. von Preußen für die auf seinem Grund wirtschaftenden erbuntertänigen Bauern veranlasst, dass ihnen das Land, welches sie zur Eigenversorgung zur Bewirtschaftung überlassen bekommen hatten (Gegenleistung Scharwerk auf kgl. Domänen), geschenkt werden sollte. Allerdings sollten sie für die ihnen überlassene Grundausstattung (in damaliger Sprache "Besatz" genannt, der aus Vieh, Ackergerät, Saatgetreide bestehen konnte und je nach regionalen Gewohnheiten verschiedenen Umfang hatte) einen Schätzpreis in Raten abzahlen (zusätzlich zu den sonst üblichen Steuern/Abgaben) und sämtliche Rechte (z. B. auf Brennholz aus kgl. Forsten) aufgeben. Viele Bauern lehnten das ab und verblieben lieber in ihrem alten Status. Sie wurden dann erst nach 1807 'zwangsbefreit'. Die dieses Angebot annehmenden Bauern wurden häufig 'Hochzinser' genannt. Sie hatten keine Scharwerkspflichten mehr, hatten aber eine höhere Zahllast an den Staat.

Ich habe viele Archivakten über die Umsetzung der Reformen durchgesehen. Es wurden Kommissionen eingesetzt, die sich nach und nach durch die Ämter und Regionen arbeiteten und die einzelnen Verträge und Regelungen für jeden Bauern schufen, mit denen sich die Verhältnisse wandeln sollten. Die Adelsherrschaften wollten nicht immer den Bauern die bisher innegehabten Flächen überlassen, sondern sie auf schlechtere Böden setzen, um den besseren Grund im Eigenbesitz zu halten. Es ging nicht immer einvernehmlich ab. Aber die Kommissionen arbeiteten in der Regel unbestechlich und gemeinwohlorientiert und dachten daran, dass der dann selbständig werdende Bauer auch eine überlebensfähige Grundlage haben musste. Auch hier hatte der Bauer noch lange an den vereinbarten Abstandszahlungen an den Grundherren zu tragen UND die dann regelmäßig fälligen Steuern an den Staat zu zahlen. Die nun 'freien' Bauern waren für Schäden durch witterungsbedingte Ernteausfälle oder Feuer selbst verantwortlich. Früher musste die Grundherrschaft dafür einstehen. Viele Bauern schafften das nicht. Erfolgreichere andere Bauern oder die Cöllmer oder adelige Gutsbesitzer kauften auf. Ab den 1830er Jahren kam es sehr häufig zu umfangreichen Besitzveränderungen, zumal die früher üblichen Beschränkungen mit der Reform völlig weggefallen waren (auch adelige Güter konnten von 'Normalsterblichen' erworben werden, mehrere Höfe durften zusammengelegt werden usw.).

Im Zuge dieser Reformen kam es zu deutlichen Veränderungen in der Landwirtschaft. Die großen Gutsbesitzer verfügten nun nicht mehr über die hörigen Scharwerksbauern zur Bewirtschaftung. Sie warben daher oft billige Arbeiter von jenseits der Grenzen an. Zur Erntezeit gab es sogn. 'Schnitterkolonnen', die die Getreidefelder mähten. Die weiblichen Angehörigen diese Wanderarbeiter hatten die Ähren zu binden. Es gab im 19. Jh. deswegen erbitterte Streitereien in der Politik. Nationalisten befürchteten eine übermäßige Polonisierung und Katholisierung des östlichen Preußen, zumal durch die Polnischen Teilungen zum Ende des 18. Jh. große Gebiete mit überwiegend polnisch-katholischer Bevölkerung zu Preußen gekommen waren. Die Fraktion der (häufig adeligen und traditionell politisch einflussreichen) Gutsbesitzer fürchtete um ihren Profit, falls man die Grenzen dicht machte. Es entstand die Notlösung, die Erntearbeiter nur saisonal ins Land zu lassen und nach der Ernte polizeilich zu kontrollieren, ob sie auch alle wieder verschwunden waren.

Viele verarmte frühere Bauern, die auf dem Lande als Instleute und Losmänner versuchten sich weiter durchzuschlagen, wanderten ab in den Westen, wo sie als Industriearbeiter mehr verdienen konnten. Es kam zu gesellschaftlichen Spannungen (industrielle Ausbeutung der Arbeiterschaft), die weitere Reformer, Philosophen, Politiker auf den Plan riefen (z. B. Karl Marx, August Bebel, die Gründung der zunächst verbotenen SPD, die Bismarck'schen Sozialgesetze).

Viktor Haupt

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