Nassauer
Nassauische Aus- bzw. Einwanderer (hg)
Nach dem Jahrtausendwinter 1708/09, den folgenden Hungersnöten und der großen Pest in Ostpreußen 1709-1711 wurde durch Wilhelm Friedrich I. (fortgeführt anschließend von Friedrich II.) eine Wiederbesiedlung des in großen Teilen verwaisten und verödeten Landes angestrebt. Noch vor den Neuansiedlern aus dem Salzburger Raum kamen aus dem Nassauischen eine Reihe von Bewerbern für diese als paradiesisch beschriebenen Plätze nach Ostpreußen, genauer gesagt in „die Litau“, wie Preußisch Litauen genannt wurde.
Größtenteils kamen sie aus dem rechtslahnischen Gebiet (Oranien), dem Westerwald, aber auch aus dem südlich liegenden Taunus. Die Gründe ihres Aufbruchs liegen wie bei den Salzburgern im Glauben: die reformierten Gläubigen hatten unter einer starken Gegenreformationsbewegung in ihrer Heimat zu leiden. Ebenso oft waren aber auch wirtschaftliche und damit finanzielle Gründe ausschlaggebend für eine Auswanderung. In den höher gelegenen, engen Mittelgebirgen ihrer Heimat kam es durch niedrige Temperaturen, hohe Niederschlagsmengen, kalte und lange Winter zu einer verringerten Wachstumszeit und damit zu einer großen Benachteiligung der hauptsächlich von der Landwirtschaft lebenden kinderreichen Bevölkerung.
Ein Auswanderungs-Williger konnte aber nicht einfach Weib, Kinder und Rucksack packen und losmarschieren! Es bedurfte einer mit nicht unerheblichen Kosten verbundenen Genehmigung seines Landesherren, um tatsächlich seine Heimat verlassen zu dürfen. Er konnte nur kostenpflichtig aus der Leibeigenschaft entlassen werden (Erlassgeld), was aber zwingend vor einer Auswanderung geschehen musste; alle etwaigen Schulden mussten beglichen werden; ein „Zehner Pfennig“ musste gezahlt werden, der 10% des außer Landes genommenen Vermögens entsprach. Dazu wurde das eigene Vermögen sicherlich möglichst gering angegeben.
Wer zu alledem nicht in der Lage war, musste von seinem Vorhaben Abstand nehmen und dies mit einem Eid sowie durch Bürgen bekräftigen. Wer die Erlaubnis erhielt, bekam einen Freilassungs- und einen sogenannten „Geburtsbrief“.
Ein heimliches Ausweichen der Einwohner war trotz erheblicher angedrohter Strafen oft zu verzeichnen, denn vielen war dieses Verfahren zu umständlich und vor allem zu teuer. Einige wurden eingefangen und zurückgebracht, andere kamen - als die Strafen und Verfolgung bekannt wurden - freiwillig zurück. Der Landesherr sah durch die sinkende arbeitende Bevölkerung seine eigenen Einnahmen schwinden und setzte alle Hebel in Bewegung, um die Abwanderungen zu unterbinden oder zumindest möglichst gering zu halten – nicht immer erfolgreich.
Die Zuzüge in Ostpreußen sind in kleinen Gruppen für die Jahre 1712, 1714, 1715, 1720 und 1721, sowie in den Jahren 1732-1740 zu verzeichnen. Die Jahre 1722 und 1723 stellten den Höhepunkt der nassauischen Einwanderung dar. In Preußisch Litauen kamen lt. verschiedener Listen insgesamt etwa 290 Familien mit etwa 1450 Personen an. Eine von 1714 vorliegende Namensliste weist für dieses Jahr eine Einwanderung von 55 nassauischen Kolonisten auf (vermutlich jeweils mit Familie), im Jahr 1715 werden 48 Personen aus Siegen aufgeführt. Sehr zahlreich wurden die Nassauer im Kreis Gumbinnen angesiedelt, es kamen einige Handwerker und viele landwirtschaftliche Arbeiter.
Die Kolonisten erhielten materielle und finanzielle Vergünstigungen (Kolonisten Patente) – aber nicht alle gleich. Die Schweizer z. B. waren bessergestellt, warum die Nassauer gerne versuchten, bei ihnen unterzuschlüpfen, sich selbst auch als Nationalgenossen bezeichnend.
Bei Ankunft in Ostpreußen wurde genau Buch geführt über die Zuzügler und dazu eine „Examination“ (=Befragung) durchgeführt. Die Aufzeichnungen sind teilweise vorhanden – aber nicht so sehr aussagekräftig: zum einen waren die Schreiber nicht immer sorgfältig und hatten auch vermutlich Schwierigkeiten, die Neuankömmlinge richtig zu verstehen. Zum anderen muss angenommen werden, dass die Ankömmlinge bezüglich ihres zurückgelassenen Hausstandes und Vermögens und ihres Schicksals unterwegs hier nun eher übertrieben, weil nämlich vom König verfügt worden war, dass eine Entschädigung für das Verlorene gezahlt werden würde – bzw. die neue Unterkunft und Anstellung passend zur Aufgegebenen gesucht würde.
Mit der einheimischen Bevölkerung zurecht zu kommen, war für die Neuansiedler nicht einfach: fremde Sprache, fremdartig erscheinende Moden, Essgewohnheiten und Traditionen, anderer Wissensstand in vielerlei Dingen des täglichen Lebens und nicht zuletzt die schon erwähnten Vorteile wie z. B. der Erlass von Scharwerksdiensten führten zu großer Skepsis und Konkurrenzangst der Einheimischen gegenüber den neuen Nachbarn bzw. anders herum.
Weitere Missernten 1719/20 und andere Unwirtlichkeiten (z. B. eine Heuschreckenplage 1711) führten zu Rückschlägen in der Besiedlungspolitik, die aber letztendlich eine Steuerreform, Reorganisation der Kammerverwaltung, Schul- und Kirchenreformen vorantrieb, neue Aktivitäten und Gelder freisetzten.
Es dauert eine lange Zeit, bis die Preußische Toleranz bei allen Beteiligten soweit gewachsen war, dass man gut miteinander auskam, eventuell sogar freundschaftliche oder verwandtschaftliche Beziehungen entstanden. Von den Salzburger Kolonisten wurde noch Anfang des 19. Jahrhunderts gesagt, dass sie nur untereinander heirateten, bei den Nassauern war das nicht so. Zumindest ab Beginn des 19. Jahrhunderts sind Heiraten zwischen Nassauern und Litauern nachweisbar.
Quellen:
Rolf Farnsteiner: Auswanderer aus der Grafschaft Wittgenstein nach Ostpreußen 1724 und 1725, in: Altpreußische Geschlechterkunde. Neue Folge 5. (1957), Bd. 2, S. 50-64.
Rolf Farnsteiner und Arthur Ehmer: Auswanderer aus der Grafschaft Wittgenstein nach Ostpreußen 1724 und 1725, in: Altpreußische Geschlechterkunde. Neue Folge 15. (1967), Bd. 5, S. 1-7.
Max-Beheim-Schwarzbach: Friedrich Wilhelm’s I. Colonisationswerk in Lithauen, Original Königsberg 1879; Reprint 2005 Elibron Classics
Friedrich Stahl: Nassauische Bauern und andere deutsche Siedler in Ostpreußen. Namenslisten aus dem 18. Jahrhundert (Verein für Familienforschung in Ost- und Westpreußen e. V.: Sonderschrift 5). 1. Auflage, Königsberg 1936 2. Auflage, Hamburg 1965. 39 S.
Horst Kenkel: Bauernlisten des Amts Tilsit aus der Zeit vor und nach der großen Pest 1709/10 (Verein für Familienforschung in Ost- und Westpreußen e. V.: Sonderschrift 9). Hamburg 1968. 71 S.
Horst Kenkel: Amtsbauern und Kölmer im nordöstlichen Ostpreußen um 1736. Nach der Generaltabelle und den Prästationstabellen (Verein für Familienforschung in Ost- und Westpreußen e. V.: Sonderschrift 23). 1. Auflage. Hamburg 1972. 2. Auflage. Hamburg 1995. 316 S.
Hans Jürgen Metz: Nassauer Siedler in Ostpreußen und die Herrschaft Beilstein (Verein für Familienforschung in Ost- und Westpreußen e. V.: Sonderschrift 27). Hamburg 1974. 168 S.
Siegfried Hungerecker: Die Untersuchung der Ämter des Litauischen (Gumbinner) und des Ostpreußischen (Königsberger) Kammerdepartements im Jahre 1777 (Verein für Familienforschung in Ost- und Westpreußen e. V.: Sonderschrift 71). Hamburg 1992. 243 S.
Fritz Ströfer: Die Kartei Ehmer (Enthält nichtsalzburgische Ansiedler nach 1710 im nordöstlichen Ostpreußen) (Verein für Familienforschung in Ost- und Westpreußen e. V.: Quellen, Materialien und Sammlungen zur altpreußischen Familienforschung (QMS) Nr. 3). Hamburg 1988. 508 S.
Heinrich Hain: Auswanderung aus Nassau-Dillenburg nach Ostpreußen 1721-1726, in: Altpreußische Geschlechterkunde. Neue Folge" 11. (1963), Bd. 3, S. 171-177.
Otto Hitzigrath: Die Nassauer-Pfälzer-Kolonie in der Zeit von 1728 bis 1732 (im nordöstlichen Ostpreußen), In: Altpreußische Geschlechterkunde. Neue Folge 1. (1953), Bd. 1a, S. 171-177, und S. 23-40 (1. Auflage).
APG-Neue Folge, Band 42 (2012)
Beitrag von Brozio: Aus dem Westerwald und Nassau nach Ostpreußen